Estonia

Die 1990er Jahre und danach

Eero Epner

Art Collecting in Estonia

Am Ende der 1980er und am Beginn der 1990er Jahre änderte sich zweifellos das Kunstleben – und ebenso die Institutionen. Die ersten privaten Galerien wurden am Beginn der 1990er Jahre gegründet und zum ersten Mal in der estnischen Geschichte wurde die Grundlage gelegt für ein Netzwerk von Galerien, die sich mit dem Verkauf von Kunst und der Organisation von regelmäßigen Ausstellungen beschäftigten. Diese grundlegendste Ebene von Kunstinstitutionen hat alleinig in den letzten beiden Jahrzehnten geholfen, den estnischen Kunstmarkt zu formen (welcher sicherlich in der zweiten Hälfte der 1990er Schwung bekam). Bis zur Währungsreform 1992 war der Kunstmarkt von “Kunstverkaufsflitterwochen” dominiert, gemäß einem Galeristen, der im Strudel der damaligen Aktivität involviert war. Als der Rubel annähernd nichts wert war, erhielt Kunst einen bestimmten Marktwert und Leute kauften beachtenswerte Mengen davon. Dies resultierte jedoch nicht im Erscheinen einer glaubwürdigen Klasse von Kunstsammlern, besonders weil nach der Währungsreform die Flitterwochen vorbei waren und “der Beginn der Marktwirtschaft durch einen verheerenden Verlust von Interesse in das Kaufen von Kunst symbolisiert wurde”. Das war der Beginn einer düsteren Periode sowohl für die Gesellschaft als auch den Kunstmarkt. Kriminelle oder verdächtige Figuren in Trainingsanzügen und Schleicher behaupteten Kunsthändler zu sein und brachten unter anderem Fälschungen und durch Schwindel erworbene Werke in den Umlauf. Doch als die Gesellschaft Veränderungen durchlief, wurden die Regeln des Kunstmarktes klarer. Zuerst wurden größere Firmensammlungen angelegt (von Banken beispielweise) und langsam aber sicher erschienen aus dem schlammigen Wasser der 1990er Jahre Leute mit einem ernsthaften und beständigen Interesse in Kunst. Am Ende der 1990er wurden die ersten Kunstauktionen abgehalten. Diese Auktionen hatten eine enorme symbolische Rolle, weil bald Auktionspreise Rekorde machten und die resultierenden Schlagzeilen einige neue Sammler anzogen.

Die Mitte des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts kann als ein Höhepunkt im estnischen Kunstmarkt betrachtet werden: Jedes Jahr gab es so viel wie zwanzig Auktionen, die eine Gesamtanzahl von fast ein Tausend Kunstwerke einbezogen. Das ist eine unglaubliche Zahl, bedenkt man die Größe Estlands. Auktionen waren erfolgreich – bis zu fünfzig oder sechzig Bieter konnten in einer teilnehmen und die Hälfte davon konnten als Kunstsammler und reguläre Käufer betrachtet werden. Diese Kerngruppe existiert noch immer, doch gaben einige, die während dem wirtschaftlichen Boom Kunstauktionen frequentierten, das Kunstkaufen auf als härtere Zeiten zuschlugen. Auch der Umfang des Kunstmarktes fiel signifikant – die Anzahl der Auktionen sowie die Zahl der zu Auktionen gesendeten Kunstwerke haben sich scharf vermindert und etliche Galerien wanderten in die Vorstädte oder in kleinere Räume. Die Gründung und das Wachstum von Firmensammlungen haben sich ebenfalls seither nicht erholt – es erstarb fast einige Jahre nach dem Milleniumswechsel. Deswegen gehören die wichtigsten Sammlungen wohl den Staatsmuseen und der Tallinner Kunsthalle, welche die Käufe während der Sowjetära machten. Zusätzlich gibt es um die dreißig wichtigere private Sammlungen und einige einzelne Firmensammlungen.

Als 1928 die Neff Auktion stattfand, waren, nach einer Zeitschrift, die größten Käufer ein Ingenieur, ein Arzt, ein Bauherr und der Direktor eines Spitals. Im heutigen Estland wäre der typischste Kunstsammler ein mittelalterlicher Geschäftsmagnat, doch Sammler der Mittelklasse existieren praktisch nicht. Die meisten der großen Sammlungen sind auch sehr neu, aufgebaut in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren. Nur eine vernachlässigbare Anzahl basieren auf einer jahrzehntelangen Tradition des Sammelns. Die wichtigste ist Mart Lepp's Sammlung – in Begriffen wie Anzahl der Werke ist sie vielleicht eine von Estlands größten Sammlungen (wenn nicht die größte). Er erbte die Sammlung, die seine Mutter begann. Es gibt einige weitere Sammlungen, die aus den Werken von nur einem Künstler bestehen und deren Besitzer die Erben des Künstlers sind – und es gibt einige vereinzelte Sammlungen mit einem Kern von nur fünf oder sechs Bildern, allerdings von einem sehr starken Künstler.

Ohne Zweifel ist der bekannteste Kunstsammler Jaan Manitski, der frühere Manager der schwedischen Pop Gruppe ABBA und estnischer, im Ausland lebender Geschäftsmann, der in sein Heimatland zurück kehrte. Manitski baute in seinem Heimatdorf Viinistu alte Fabriksgebäude um und gründete dort ein kleines Kunstmuseum. Das Museum ist offen für die Öffentlichkeit und stellt einige Hundert Kunstwerke aus, doch Manitski sagt, das sei etwa ein Drittel oder weniger von seiner Sammlung. Andere wichtige Sammler (wie Guido Sammelselg, Rene Kuulmann, Mart Lepp, Henn Koch, Urmas Sõõrumaa, Tõnis Sildmäe, and Enn Kunila) haben ebenfalls öffentliche Ausstellungen aus ihren Sammlungen organisiert.

Es ist bemerkenswert, dass die größten privaten Sammlungen in Estland sich alle auf ältere estnische Gemälde ausrichten – nämlich Kunst, die in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und bis 1945 geschaffen wurde. Weit weniger Sammler sind angezogen von der klassischen Moderne (welche in den 1950ern erschien) und zeitgenössische Kunst in ihren unterschiedlichen Formen fällt fast gar nicht ins Gewicht. Wahr ist, dass einige individuelle Sammler auch Bilder aus den 1990er und 2000er Jahren kaufen, doch sind keine wichtigen geschäftlichen Transaktionen bekannt mit beispielsweise international erfolgreicher estnischer Videokunst, auch nicht mit Fotografie, Installationen gar nicht zu erwähnen. Die Esten haben auch das Sammeln von internationaler Kunst noch nicht entdeckt. Hier und dort gibt es einige Werke von russischen Künstlern und vor etwa einem Jahrzehnt wurde ein kommerzieller Deal bekannt – die Medien berichteten, dass Leute, die vorher nichts mit Kunst zu tun hatten, es nun notwendig erachteten, zweitrangige Drucke von Picasso zu kaufen. Doch gibt es nur einen Sammler, der westliche Kunst gesammelt hat, sowohl alte als auch zeitgenössische. Dieser Mann ist Guido Sammelselg. Seine Sammlung, die Werke von Munch und Hirst beinhaltete, ist seit langem verstreut.

Die Gründe, warum Sammler alte Kunst bevorzugen, scheinen klar zu sein: ein realistischer Stil in Malerei, welchen die klassischen Werke betonen, ist einfacher zu verstehen und auch “schöner”. Den Erfolg des Impressionismus in den Auktionssälen der Welt widerspiegelnd, wird die meiste Aufmerksamkeit dem Post-Impressionisten Konrad Mägi (1878–1925) und seinen anderen Zeitgenossen gegeben. Übrigens beachten lokale Sammler die kubistische Avantgarde fast nicht, welche in den 1920ern eine kurze Hochblüte hatte und von der offiziellen Kunstgeschichte hoch geschätzt wird. Darüber hinaus ist die nationalistische Ideologie immer noch nicht unwichtig, wo ältere Gemälde betroffen sind. Diese Kunst, die hauptsächlich Landschaften abbildet, verewigt nicht nur die Szenerie (oft hat der Sammler eine Verbindung zu der im Gemälde abgebildeten Gegend), sondern ideologisiert sie auch: Obwohl die Staatlichkeit nicht mehr in Gefahr ist, ist die nationale Ideologie eine relevante Angelegenheit in der estnischen Gesellschaft, weil diese als der einzige Weg gesehen wird, kulturelle Identität in einer sich verändernden Welt zu bewahren. Diese Auffassung hat in den letzten Jahren einen nationalistischen oder patriotischen Aspekt angenommen, wodurch die größten Kunstsammlungen in Estland klar konservativ und ideologisch begründet erscheinen. Angst vor der Avantgarde, verbunden mit einem nationalen Anklang, ist die wiederkehrende Aussage der meisten Sammlungen. Gleichzeitig haben die Kunstsammler wenig Chance: ihre Sammlungen spiegeln, wohl oder übel, was die Hauptströmung der estnischen Kunst war.